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Wenn Orson Welles geahnt hätte, wie sich die Geschichte entwickelt, hätte
er bitterlich geweint und nur noch Kakteen gezüchtet.

 

Unser Kommunikationsverhalten hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Wurde früher während und nach dem Abendessen das Tagesgeschehen rekapituliert, die Kinder vor der Gut-Nachtgeschichte auf die haarsträubenden Experimente eines avantgardistischen Lehrers eingeschworen und mit beginnender Abendruhe Rilke und Herrmann Hesse zitiert, so ist heute die Redezeit eines ordentlichen deutschen Ehepaares auf die Werbepausen bei GZSZ beschränkt. Vorausgesetzt, man findet die Fernbedienung, um die „Stumm-Taste“ zu drücken.
In eine solche Pause platzte die Bemerkung meiner Frau:  

„Das Telefon ist kaputt!“

Wortlos griff ich zu einem der Peripheriegeräte unserer hochmodernen Funk-Telefonanlage, drückte die Amtstaste und konnte kurz darauf den wohlvertrauten Ton hören.

„Das hier geht! Vielleicht war nur der Akku leer.“

„Ich meine ja auch nicht kaputt im Sinne von kaputt!“

„?“

„Hast Du mich nicht verstanden?“

„Nicht ganz. Wo ist der Unterschied von kaputt zu ‚im Sinne von kaputt’ zu finden?“

Die Werbepause war noch jung, also war eine ausholende Antwort zu erwarten.

„Männer sind furchtbar schwerfällig. Kaputt im Sine von kaputt bedeutet, es ist richtig kaputt. Fertig. Nicht mehr zu gebrauchen. Unser Telefon ist nicht richtig kaputt. Es hat nur eine Macke.“

„Und wie äußert sich die?“

„Man hört beim Telefonieren ein komisches Knacken und Hintergrundgeräusche. So ein Rauschen. Aber immer nur kurz!“

Knacken? Hintergrundgeräusche? Rauschen? Vor meinem geistigen Auge spielten mehrere Agentenfilme im Schwarz-Weiß-Format gleichzeitig ab. Überall saßen in dunklen feuchten Kellern düstere Gestalten mit Kopfhörern auf den Ohren, die den Militärgeheimnissen feindlicher Mächte, oder der politischen Gesinnung der Nachbarn auf der Spur waren.

„Nein! Das kann es nicht sein!“, entfuhr es mir laut, bekam aber keine Antwort mehr, weil inzwischen Dr. Gerner (Heldengestalt und Fiesling der Vorabendserie GZSZ. Anm. d. Verf.) wieder die Kontrolle über unser Wohnzimmer übernommen hatte. Von der fragwürdigen Handlung bekam ich nichts mehr mit, denn meine Gedanken überschlugen sich. Jede Einzelheit der Diskussionen um den „großen Lauschangriff“ rief ich mir ins Gedächtnis, und überprüfte meine Handlungen und Aussprüche der letzten Wochen auf staatsfeindliches Verhalten, wurde aber nicht fündig. Kann man denn heute schon dem terroristischen Lager zugerechnet werden, nur weil man sich abfällig über die Fahrplankonformität der Deutschen Bahn AG geäußert hat? Für einen sofortigen Test fiel mir niemand ein, den es sich anzurufen lohnte, also beschloss ich Vertagung. Immerhin programmierte ich unseren Anrufbeantworter dahingehend, dass er alle geführten Gespräche aufzeichnete.

Am folgenden Tag fiel mir in der Mittagspause beim fälligen Friseurbesuch die Lesemappe mit dem Spiegel in die Hände, und da war es zu lesen:  

Lauschen bei der Presse

Die bayerische Polizei soll künftig zur Gefahrenabwehr auch die Telefone sogenannter Berufsgeheimnisträger anzapfen, also von Anwälten, Ärzten, Geistlichen oder Journalisten. Dies sieht der Entwurf für eine Novelle des Polizeiaufgabengesetzes des Freistaates vor, den die CSU-Landtagsfraktion vorgelegt hat... usw. usw.

Ich lebe in der Nähe von Augsburg, und das ist in Bayern. Wie auf heißen Kohlen strebte ich am Abend meiner Heimstatt zu, spielte das Tonband zurück und lauschte den Gesprächen, die meine Frau tagsüber geführt hatte.

„Meine Mutter hatte recht! Du bist ein niederträchtiges Subjekt, dem nichts mehr heilig ist!“, bellte hinter mir die eiskalte Stimme meiner Weggefährtin.

„Seit wann machst du das, und was glaubst du zu finden?“

„Der Schwachsinn, den du mit deinen Freundinnen diskutiertst, interessiert mich nicht. Ich suche das Knacken!“

„Was für ein Knacken?“

„Du hast doch gestern gesagt, das Telefon sei kaputt!“

“Wieso kaputt?“

„Also nicht kaputt im Sinne von... Halt! Da war es!“

Das Band wurde gestoppt, zurückgespult und erneut abgehört. Da war es deutlich zu hören. Erst ein Knacken, dann ein kurzes Rauschen. Wie in den alten Agentenfilmen. Erstaunlich, dass die Technik da nicht weitergekommen ist.

Bei einem großzügig eingeschenkten Schnaps verkündete ich die grausame Wahrheit:

„Wir werden abgehört!“

„Quatsch! Von wem denn?“

„Weiß nicht. Vom Verfassungsschutz, oder so.“

Dann zeigte ich hier den herausgerissenen Spiegel-Artikel.

„Dann war es ja vorauszusehen!“ – war ihr fachlicher Kommentar.

„Aber wieso? Ich bin weder Anwalt, noch Arzt, noch Geistlicher oder Journalist!“

„Das nicht! Aber Du schreibst regelmäßig für diese komischen Satiremagazine.“

„Ja und? Da laden bekanntlich geistig zerrissene Typen ihren gedanklichen Müll ab. Keine Gefahr für Staat und Volk!“

„Und was war mit dem Artikel über George W. Bush und Angela Merkel mit der Anspielung auf Monica Lewinsky?“

„Der war nicht von mir!“

„Na und? Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen!“

Der Abend war gelaufen, denn düstere Gedanken und tiefe Traurigkeit hatten sich unser bemächtigt. Die Zukunft sah grau aus, und roch nach Schweiß, Blut und Gitterstäben. Doch wir sind positiv gestimmte Menschen und versuchen immer, das Beste aus einer Situation zu machen. Und inzwischen haben wir uns an unsere Mithörer nicht nur gewöhnt, sondern sogar ein persönliches Verhältnis aufgebaut. Man soll es den armen Teufeln in ihren feuchten dunklen Kellern auch nicht zu schwer machen. So achten wir beim Telefonieren auf deutliche Aussprache und wohlgesetzte Sprechpausen. Der Bitte eines Lauschers, der mich in einem Gespräch mit meinem Steuerberater unterbrach und um eine Gesprächspause bat, weil er ein neues Tonband einlegen müsse, kam ich gerne nach. Im Gegenzug konnte ich bei ihm erfragen, in welchem Restaurant meine Frau einen Tisch bestellt hatte. Die Gute hatte es wieder einmal vergessen. Vorteilhaft ist auch, dass man Bestellungen bei Versandhäusern, Widerrufe von Haustürgeschäften wie auch Honorarvereinbarungen jetzt getrost telefonisch erledigen kann. Es ist ja alles amtlich dokumentiert und somit beweiskräftig.

Nur eines macht mir Sorgen:

Seit ungefähr zehn Tagen steht eine dunkle Limousine mit verspiegelten Scheiben vor unserem Haus. Immer am selben Platz. Was das nur wieder bedeutet?

© 2003 Erwin Grab